Zionsgemeinde Hamburg
Eine Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche

Alarm-Tagebuch
1943 aufgeschrieben von Lea Horwitz
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297 Alarm             13.06.1943    9.20 Uhr – 10.15 Uhr

Die Beichtgemeinde war bereits versammelt. Zunächst wurde sie geteilt, die meisten in den Kirchenkeller, einige in unseren Keller. Danach sammelten wir uns (64) im Kirchenkeller und hielten die Beichte. Wir sangen O, heiliger Geist, kehr bei uns ein, die Verse 1-3 und am Schluß 7.  Die Beichtrede hatte den Text: Ps 68, 21 . Etwas nach 10.30 Uhr  begann der Gottesdienst. Es wurde geschossen, aber in der Ferne. Angriffe auf Bremen und Kiel.


298 – 317 Alarm    14.06. – 19.07. 1943

Häufig künstliche Vernebelung. Meistens keine Abwürfe. Einmal schwerer Angriff auf  Köln.


318 Alarm                 25.07.1943   24.30 Uhr – 3 Uhr  Dies irae !

Als Im Keller : Vater, Mutter, Tante Toni, Viola-Renate, Frau Brückmann. Ungeheuerliches  Schießen. Brummen von ungezählten Fliegern. Bombenheulen und Pfeifen, ein grauenhafter Höllenlärm, der Boden wankte und schütterte, man meinte jeden Augenblick, daß es unmittelbar bei uns einschlüge. Als Nächstes entdeckten wir auf der Straße vor der Kirche mehrere Brandbomben, die wir leicht mit Sandbeuteln löschen konnten. Danach bemerkten wir, daß Schweimler lichterloh brannte und meldeten es der Polizei. Sobald das furchtbare Schießen und Bombenwerfen sich etwas gelegt hatte, begann das Löschen. Die Leute von der Holzhandlung, andere Nachbarn z.B. Herr Schneider, der Hauswart von Lübeckerstraße 61 usw. haben vorbildlich geholfen.

Zunächst wurde die Bekämpfung über Tante Tonis Dach versucht, mußte aber wegen zu großer Hitze aufgegeben werden. Unser Kirchendach fing Feuer an zwei Stellen,  wurde aber sofort abgelöscht. Die Fenster wurden glühend heiß, so dass sie durch und durch gesprungen sind und das Blei der Einfassung zu schmelzen begann. Bald kam auch die Feuerwehr und der regelrechte Kampf gegen das Feuer setzte ein und dauerte mehrere  Stunden über die Entwarnung hinaus. Ein gewaltiger Funkenflug bedrohte unaufhörlich Kirche und Nachbarhäuser. Ein Haus am Stieg wurde von dem Funkenflug  in Brand gesetzt und brannte bis in die erste Etage hinunter.

Als die Bekämpfung des Feuers nicht mehr so viele Helfer erforderte, gingen die   Holzhandlungsleute und Viola-Renate in die Hohenfelder Allee löschen. Ein Haus war nicht mehr zu retten. Dachgeschoß und 1. Stock brannten aus,  das andere konnten sie zum Stillstand bringen, daß nur das Dachgeschoß ausbrannte. Während der Feuerbekämpfung räumten wir Frauen erst Tante Tonis Haus, da das Dach bereits brannte und nachher alles Wertvolle aus der Kirche in den Keller. Danach mußten wir unaufhörlich Wasser schaffen und allerhand Handreichungen tun. Nach Entwarnung kam Ernst Riecken mit Werner, der gerade Urlaub hatte und Gustav Martin zum Helfen. Gegen 5 Uhr war das eigentliche Löschen beendet, gegen 6 Uhr wurde richtig abgelöscht und abgespritzt von den allein zurückgebliebenen Leuten von der Tischlerei . Von  5 - 6 Uhr hatte sich Frau Brückmann zurückgezogen  und ich (Mutter) sich etwas gelegt, um 6 Uhr tranken wir zusammen im Gemeindesaal Kaffee und räumten die Kirche wieder ein.  Gottesdienst durfte aber nicht gehalten werden, weil ein Zeitzünder in der Holzhandlung läge. Nachher stellte sich heraus, daß der angebliche Zeitzünder eine Phosphorbrandbombe war, die tief in die Erde gefahren und da gefahrlos explodiert war. Welches Gotteswunder !

Als Vor der Kirche lag noch eine, die sich als harmloser Blindgänger erwies. Der Gottesdienst, den wir zu Rieckens bestellt hatten, konnte endlich gegen 11.00 Uhr doch noch in der Kirche gehalten werden : Frau Lüthjens und Karl-Heinz Bahr, Frau Brückmann, Grete Nienau, Frl. Drewes, Frau Polster, Else Kreiselmeier und Rosemarie Schmidt, 2 Boysens, Vater Hillmer und Tante Milli, Frau Konjack und Gertrud, Herr Hohnsbein, Viola-Renate, Mutter, Tante Toni, 3 Rieckens, ein fremdes Ehepaar, Frau  Kempe.


Es war dunkel wie die Nacht vom Rauchqualm bis tief in den Vormittag hinein. Gelbschwarzer Dunst lag über der ganzen Stadt, den ganzen Tag wehten Ruß und verbrannte Fetzen umher. Alle Pflanzen und alle Gebäudekanten waren mit dicker, schwarzer Kruste bedeckt. die Sonne war wie "Blut" . Gegen Abend wurde es langsam ein wenig heller und man sah ein ganz kleines Stück blauen Himmel.

Gänge durch die  nähere Umgebung zeigten ein schreckliches Bild : überall Schutthaufen, ausgebrannte und noch brennende Häuser, Feuerwehr an der Arbeit, Autos und Karren mit wenigen Habseligkeiten beladen und einer fliehenden Familie, Lastautos voller Flüchtlinge mit armseligen Bündeln. Als Schlußvers wurde in der Kirche gesungen : So wollen wirs dann wagen, es ist wohl wagenswert ........ Nach der Kirche begaben Vater und Mutter sich in die Burgstraße, da sie gehört hatten, daß  die Kirche der Missourigemeinde am Peterkampsweg abgebrannt sei. In allen Straßen war der Kampf gegen das Feuer noch in vollem Gange, andere  waren schon beschäftigt, Scherben auszufegen und Dachlöcher zu flicken. Das  Krankenhaus Bethesda war abgebrannt, die Patienten sollen durch heldenhaften Einsatz der Schwestern alle gerettet worden sein.  Gegenüber Burgstraße 56, das  Haus, wo Frau Corde wohnte und die ganze Ecke war durch eine Luftmine vernichtet worden. Wir mußten vermuten, daß sie dabei umgekommen sei, was sich später auch bestätigte. Oeschs waren geflohen, nachdem das Neugeborne während des Angriffs im Keller notgetauft wurde : die Wöchnerin, die kleinen Kinder, davon das Jüngste mit hohem Fieber, der Säugling und wenige Habseligkeiten in einer Karre zu Fuß bis zur Veddel. Oesch selber kehrte nach der Unterbringung der Seinen wieder zur Stadt zurück und nahm unser Angebot,  unsere Kirche benutzen zu dürfen, noch am Dienstag telegrafisch dankbar an !

Wir sahen die Zerstörung der Baustraße und damit des Hauses der beiden alten Könnemanns. Wir trafen Franz und Gretchen Peters  beim Scherbenfegen in ihrer Wohnung, wo nur Fensterscheiben zersprungen waren. Auf dem Rückweg, zu Haus kam der alte Christiansen zu uns, der ausgebombt und an Elbers überwiesen war. Die erste Frage auf seinem Überweisungsschein war die nach der Abstammung.


Ungefähre Angabe der Schäden  des ersten der vier Großangriffe auf Hamburg im Juli 1943
(nur nach eigenen Beobachtungen und Erfahrungen aus der Erinnerung ein Jahr später niedergeschrieben)

Die Hauptwucht des Angriffs richtete sich auf Altona, Eimsbüttel, St. Pauli, Hoheluft, bis Niendorf-Schnellsen hinaus, Rotherbaum, Harvestehude und die Innenstadt.  An Kirchen wurden zerstört : St. Katharinen, St. Nikolai bis auf den Turm, St. Georg, Friedenskirche in Eilbek, St. Markus  (Hoheluft), Phillippus (Eimsbüttel), Hauptkirche Altona, Reformierte Kirche ( Ferdinandstraße), Französisch-Reformierte Kirche (bei der Universität), vermutlich St. Andreas (Bogenstraße), Baptistenkirche (Altona), Bahnhof Berliner Tor, Krankenhaus Elim hatte einen bösen Treffer und viele Tote (etwa 15 Schwestern und 45 Patienten), Stadthaus, Conventgarten, Börse, Stadtbibliothek.

Man redete damals allgemein, Altona und  Eimsbüttel seien flach, aber davon konnte keine Rede sein, wenn an manchen Stellen (so zwischen Bahnhof Sternschanze und Holstenstraße) ganze Straßenzüge daniederlagen, so standen doch noch ganz große zusammenhängende Gebiete, aus denen dann nur viele Häuser einzeln heraus getroffen waren.
(Hoheluftchaussee eine Seite ganz zerstört).

In der Innenstadt unendlich viel Einzelnes, so Neuer und Alter Wall und Große Bleichen, viele der vornehmen Althamburger Läden, Bergstraße u.s.w.  In Harvestehude fast nur Einzelhäuser zwischen heraus, zusammenhängend wohl nur Weidestraße, Grindel war schwer zerstört. Elternhaus Sophienterrasse 16 abgebrannt.


319  Alarm     25. Juli 1943      14.45 Uhr – 17.30 Uhr

Sehr starkes Schießen bereits vor der Warnung. 1 ½ Stunde Pause, wieder starkes Schießen, neue Warnung. Unzählige Brandbomben im Hafengebiet. (Die neue Warnung wurde dadurch nötig, weil viele Menschen, wohl hauptsächlich Flüchtlinge,  unbekümmert auf den Straßen herumhantierten. Zerstört wurde in erheblichen Maße die Umgebung des Rödingsmarktes und Neuhof (wo Familie Richter mit verschüttet wurde mit den Hausgenossen, sich aber selbst herausarbeiten konnten.) Tagsüber zu verschiedenen Malen Schießen ohne Warnung, fast ununterbrochen öffentliche Luftwarnung. Die Brände dauerten den ganzen Tag und die folgende Nacht an. Wir hatten wenig Wasser und Gas, aber doch noch etwas von beidem, fast ungestörte Elektrizität. Das Telefon funktionierte, nur wenn wir angerufen wurden, aber auch nicht immer.


320. Alarm      26.07.1943          O.35 Uhr – 1 Uhr

Starkes Schießen auch bereits vor der Warnung. Nachher der ganze Himmel ringsherum rot von den noch vom Vortag her andauernden Bränden. Der Brand bei  Schweimler neu ausgebrochen, hoher Feuerqualm. Vater und Tante Toni bis 4 Uhr löschen geholfen. Im Keller: Vater, Mutter, Viola-Renate, Tante Toni, Frau Brückmann, Herr Christiansen.


321. Alarm      26. 07 1943        10.30 Uhr - 12.50 Uhr

Zuerst Schießen. dann etwa einstündige Stille, dann neue Warnung. Im Keller:  Vater, Mutter, Tante Toni, Viola-Renate, Herr Helmcke


322.Alarm      27.07.2943          0.20 Uhr – 1.00 Uhr

Rudolf Elbers traf am 26. Juli in Hamburg ein nach einer Fahrt, die von Bergedorf herein 3 Stunden gedauert hatte mit dauernden entsetzten Warnungsrufen aus den entgegenkommenden Zügen, doch bloß nicht nach Hamburg zu fahren und dann der grausigen Wanderung durch die ganze Stadt, durch Brand und Trümmer.


323. Alarm     27.- 28.07.1943    ab 23.45 Uhr

Belegschaft: Vater, Mutter, Viola-Renate, Tante Toni, Rudolf Elbers, Christiansen. Der letzte Tag unseres Hauses begann mit einem festlichen Frühstück auf dem Balkon (bei dem strahlend heißen Sommerwetter). Wir hatten vorher notdürftig ein bißchen sauber gemacht: (alles war verdreckt und verrußt und Wasser mußte sehr gespart werden.) Tante Toni war zu uns gezogen, da es zunächst noch nicht zu schaffen war, ihr Haus wieder in einen brauchbaren Zustand zu kriegen. Sie hatte Geburtstag und gleichzeitig Herr Christiansen seinen 75. So sollten sie zusammen gefeiert werden mit Kerzen um die Teller. Der alte Herr war sehr gerührt.

Eigentlich erwarteten wir die Kinder an diesem Tag zurück, Christoph von Nestau und Ruth und Angelica von Hermannsburg.  Wir hatten ihnen zwar am Montag (nach Abstehung einer 1 ½ stündigen doppelten Telegrammschlange) ein dringendes Telegramm geschickt, aber das war nicht angekommen. Dagegen drang ein Ferngespräch von Jutta Harms am Dienstagmorgen durch, und diese übernahm zu unserer Erleichterung die telefonische  Meldung nach Hermannsburg. Nach dem Plan hätten die Kinder gerade von Dienstag an bei uns sein und am Donnerstag mit Tante Toni nach Pellworm reisen sollen. Dahin war ein Paket mit einiger Wäsche vorausgeschickt, das nach Hamburg zurück, von da nach Pellworm zurück, von da (telegrafisch und brieflich umgemeldet) tatsächlich unversehrt bei uns in Nestau anlangte und mir immerhin ein paar Frotteehandtücher rettete. Nach dem Mittagessen gingen Vater, Mutter und Viola-Renate nach Rothenburgsort zur Taufe von Peter Diebenow. Er ist Violas Patenkind, und zu seiner Taufe war sie Sonnabend eingetroffen. Die hatte dann natürlich am Sonntag nicht stattfinden können, wie es geplant war und war nun auf den Dienstagnachmittag in der Wohnung anberaumt.

Zerstörungen sahen wir auf diesem Weg verhältnismäßig wenige, es begegnete uns aber ein ganzer Zug von flüchtigen Kindern und Müttern mit Gepäck, geführt von Parteibeamten in Uniform.  Der Zug beeindruckte uns stark und doch, wie wenig ahnten wir, wovor dieser Kinderzug bewahrt geblieben ist. Die Taufe fand nur in Gegenwart der Eltern Hohnsbein, Grete Roos, Frau Diebenow, Edith und uns statt. Das Kind bekam Violas Taufspruch : Siehe, ich mache alles neu ! und unsere letzte zu solchen Zwecken gesparte Schäferbibel als Patengeschenk. Edith war sehr unruhig und ängstlich und plante für den nächsten Tag die Flucht mit dem Kinde zu Diebenowschen Verwandten ins Erzgebirge.  Wie anders sollte diese Flucht werden! Nach der Taufe machten Vater und ich einen Besuch bei Pastor Isenberg, den wir sehr bedrückt und mitgenommen fanden. aber doch noch froh, uns zu sehen. Zu Hause war festlich aufgedeckt (das schöne japanische Geschirr) und eine Geburtstagsgesellschaft versammelt : Hillmers, Hohnsbeins, und Gretchen Roos, Rudolf Elbers, Fräulein Drewes.  Auch Maria Munt kuckte noch einen Augenblick  herein. Ich freute mich noch, so viele Gemeindeglieder gesund beisammen zu  sehen. Am späten Abend saßen wir noch im Musikzimmer mit Rudolf Elbers zusammen und beredeten, ob und wie wir unser Haus, da wir die Kinder für Kriegsdauer nicht wieder zurückkommen lassen wollten, als Hilfskrankenhaus zur Verfügung stellen könnten, da so viele Krankenhäuser getroffen waren. Am späten Abend (11 Uhr etwa) kam noch einmal die Feuerwehr löschen, da der Brand bei Schweimler noch immer schwelte. Kurz vor Ausbruch des Alarms zog sie ab.


Wir beredeten noch, wie wir aufwachen sollten, da in unserer nächsten Nähe die Sirenen nicht mehr funktionierten. Die Kirche hatten wir am Sonntagnachmittag ausgeräumt und bereitgemacht (nach Anforderung) : für die Aufnahme von

Flüchtlingen als Nachtquartier. Sonntag waren wir herumgelaufen, um Stroh dafür zu bekommen. Dienstag war es uns angeliefert worden und in hohen Haufen teils in der Kirche, teils im Gemeindesaal aufgeschichtet fast bis zur Decke direkt neben dem eisernen Schrank.

Um 23.45 Uhr begann der Alarm, und eine volle Stunde herrschte völlige Stille (später, nachdem allerhand tolle Gerüchte über die Bedeutung dieser Stunde umgegangen waren, wurde es uns klar, daß sie in aller Ruhe Aufstellung genommen hatten zu dem ungeheuerlichsten Teppichwurf, der ihnen je geglückt ist. Wir saßen ruhig im Keller und erwogen schon, ob man zu Bett gehen könne. Da plötzlich setzte es ein : ein so furchtbares Krachen, Heulen, Bersten, Brausen,  wie man es überhaupt nicht beschreiben kann. Der festgebaute Keller schwankte wie ein Schiff, wir standen in dem kleinen Vorraum des Kellers, im Kreis, dicht beieinander und konnten uns nur schreiend verständigen. Wir sagten Liederverse auf : " Mitten wir im Leben sind " und andere, als letztes " Jesu, meine Freude ". Nach einiger Zeit sagte jemand : " Hört denn das niemals wieder auf ? " Da waren gerade 5 Minuten vergangen. Bei den Worten : " Weicht ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister Jesus tritt herein, " stürzte Zickel von der Holzhandlung herein mit dem Schreckensruf : " Die Holzhandlung brennt ! "

Einen Augenblick erstarrten wir alle. (Ich weiß nur, daß ich mir gleichsam kühl und sachlich durch den Kopf fahren ließ : Also nun alles, wie man es von Barmen gehört hat, Flucht von Keller zu Keller, und ob man herauskommt?  Wir hatten gerade in den Tagen vorher miteinander besprochen, daß unsere umgebenden Straßen gepflastert und nicht asphaltiert seien, ein großer Vorteil in diesem Fall) Nun entwickelte sich alles rasch, die Männer stürzten herüber zu den kleinen Häusern, bald füllte sich der Keller mit den Flüchtlingen von drüben. Ich sah Rudolf Elbers mit seinen gelassenen ruhigen Bewegungen den Kellerdurchbruch in unser Haus aufklopfen. Zickel war in einer lodernden Verzweiflung, daß gerade in der Nacht, wo er Wache hatte, solch ein unrettbares Unglück mit der Holzhandlung passieren mußte, und er riß mit seinem leidenschaftlichen Schwung die Männer mit, die immer  wieder herausstürzten, um noch Habseligkeiten aus den kleinen Häusern zu retten. Vater versuchte noch, Elbers geliebte Bilder zu bergen, Betten und Kleidungsstücke der Fremden. Er schilderte später das eigenartige Gefühl, im Dunkeln in einer völlig fremden Wohnung zu stehen und sich blitzschnell entschließen zu müssen : Was rette ich vernünftigerweise ? Abwechselnd habe er sich die beiden Verse durch den Kopf schwirren lassen :


"Vater Fink, er läuft nicht schlecht,
trägt den treuen Stiefelknecht.
Mutter Fink, besorgt vor allen,
rettet ihre Mausefallen. "

und

"Gut und Blut, Leib,
Seel und Leben
ist nicht mein.
Gott allein
ist es, der’s gegeben.
Will er’s wieder zu sich kehren,
nehm Er’s hin.
ich will Ihn
dennoch fröhlich ehren."

Rudolf Elbers bekam im Dunkeln eine schwere Wäschekiste auf den Fuß und damit eine wochenlange bitterböse Vereiterung, aber das hat er uns erst sehr viel später erzählt. Es kann vielleicht eine Stunde gedauert haben. die die nun bunt zusammengewürfelte Gesellschaft in unserem Keller verblieb und die Männer mit gerettetem Hausrat ab und zu liefen und mal die eine mal die andere der Hausfrauen herausschrien.  Etwa um 1 Uhr war Zickel in unseren Keller gestürzt, und 10 Minuten später schlugen die Flammen aus der Holzhandlung kirchturmhoch und mit so furchtbarem Brüllen, daß niemand mehr irgendetwas von dem entsetzlichen Heulen und Zischen der Bomben hörte. Keiner von uns weiß, ob und wie lange das noch angedauert hat, von anderen wurde mir später gesagt, vielleicht etwa 20 Minuten. Dann sagte Zickel, der Kirchenausgang  sei für uns nicht mehr passierbar, und wir gingen alle durch den freigelegten Durchbruch in unseren Hauskeller herüber. Von da eilten wir zur Haustür und sahen mit Entsetzen den tobenden Funkensturm wie einen wüsten Feuerregen auf beiden Seiten des Gartens, der Gangseite und der Straßenseite.

Für mich war dies wohl der furchtbarste Augenblick. Ich glaubte, dies sei der so oft und schrecklich beschriebene Phosphorregen, und es bleibe uns nun nichts weiter übrig, als im Hause oder auf der Straße zu verbrennen.  Ich war einen Augenblick allein in unserem Treppenhaus, die fremden Nachbarn schon alle fort, Vater und Viola oben, um noch was zu retten, Tante Toni im Keller, um nasse Tücher zu holen, und ich kämpfte einen harten Kampf mit meiner Todesangst, mit der Angst vor einem solchen Tode. Aber das alles Überragende war die tröstliche Gewißheit der Nähe Gottes. Dann kamen die beiden von oben, und wir liefen los, in den Funkensturm hinein, eine nasse Mütze auf dem Kopf, ein nasses Tuch vorm Gesicht, in den Händen die Handkoffer. War man einmal draußen, war’s nicht so schlimm, wie man sich’s drinnen gedacht hatte, und wir stürmten hinüber zur anderen Ecke des Wandsbekerstieges (Nr.64) da war eine große Volksversammlung, und wir kamen gar nicht in den Keller angenehmerweise, sondern in ein Vorderzimmer, wo die Dunkelheit nur von dem schauerlichen Feuer erleuchtet wurde, aber so, daß man alles im Zimmer erkennen konnte.

Von hier sind Vater und Rudolf Elbers 5 mal hinübergestürzt, um die Kostbarkeiten von Kirche und Haus zu retten. Später erzählte Rudolf, wie er mit Zickel einen Versuch gemacht hat, den Teppich abzureißen, wobei die Fenster als glühende Masse heruntergestürzt und ihn beinahe getroffen hätten. Auf diese Weise sind die Abendmahlsgeräte, das Choralbuch und das Kantional, das Vater noch als Allerletztes vom Chor der Kirche geholt, als man schon kaum mehr durchkonnte, und nachher die Sachen aus dem Geldschrank herübergekommen. Im Schlafzimmer holte er noch Wäsche und Kleider, Wintermäntel aus dem Schrank, Mäntel aus der Garderobe, aus der " Mau " , wo der Feuersturm zur offenen Tür hereinfegte und die Lampe in wilden Kreiseltanz versetzte, die Bibel vom Altar, das Paulusbild von der Wand und das Bärenbilderbuch ! Er vergaß auch Kaffee und Tee nicht,  er dachte an alles Mögliche. Zwischendurch stärkten sie sich beide mit einem Zug Kognak aus der Flasche.


Das letzte Mal hatten sie die Kirchenbücher unterm Arm, dazu eine Handtasche mit einem Sommerkleid von mir und meinem Abendmahlskleid, meinem Schmuck, Wäsche von Vater und mir, eine Anzahl Bestecke, vom gedeckten Tisch abgenommen usw. Auf dem Rücklauf sind sie beide zu Fall gekommen, teils von der Wucht des Sturmes und wohl auch eigener Ermattung, teils weil ein großer Ast des Apfelbaums mitten auf dem Weg lag. Von ihren Sachen konnten sie nichts wiederkriegen, sie durften Gott danken, daß sie mit dem Leben davonkamen.

Viola und ich saßen inzwischen drüben. Das Zimmer hatte sich mehr und mehr gefüllt, wir saßen schließlich dicht an dicht in dem kleinen stockdunklen Flur. Draußen explodierten in fast regelmäßigen Abständen Zeitzünder, sonst hörte man nur das Brausen des Feuersturmes.  Es wurden Expeditionen ausgerüstet, um auf dem Dach des Hauses Funken zu löschen, Viola war auch dabei, kam aber bald wieder und sagte, es sei ein allgemeines Gezanke und geschähe nichts. Die kleine Häuserreihe uns gegenüber war inzwischen bis zum letzten, bis zu Schneiders heruntergebrannt, auch andere Häuser jenseits des Stieges brannten.

Vor unserem Haus auf der Straße lag eine ungeheure Matratze.  Etwa 2 Stunden (also bis 4), mag es hier gedauert haben, bis Vater und Rudolf zum letzten Mal ankeuchten und sich nun endlich zu uns setzten. Vater sagte mir mit Tränen, daß dem Bild des auferstandenen Heilandes im Chorfenster der Kopf abgeplatzt sei. Doch mußten wir nun bald das Haus verlassen, dessen Lage auch gefährlich zu werden drohte. Tante Toni hatten wir gleich bei der Flucht aus unserem Hause verloren und vermuteten sie bei Brückmanns, wußten aber nichts. Allmählich verflüchtigte sich die ganze Gesellschaft. Wir blieben bis ziemlich zuletzt und nahmen von den inzwischen geretteten Sachen, was sich tragen ließ, längst nicht alles. Wir flohen durch den kleinen Gang, der in dieser Nacht durch Gottes Güte noch vollständig  stand und uns dadurch eine Fluchtmöglichkeit bot, wie sie am unteren Ende des Stieges nicht gewesen ist. Da begegneten wir dem alten Christiansen, der da herumirrte. Es war das letzte Mal, daß  wir den armen alten Mann gesehen haben. Wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist. Um die Ecke Lübeckerstraße brauste und heulte der Feuersturm, daß es unmöglich schien, darüber hinwegzukommen. Auf unserer Seite wollten wir in Nr. 61  Zuflucht nehmen, aber man rief uns aus dem Haus zu : " Hier nicht hinein, hier brennt’s schon ! "  So hockten wir dann auf der Vortreppe, wir vier, und da Rudolf bald auf Erkundungsfahrt auszog, wir 3 allein.

Es war einer von den furchtbaren Augenblicken dieser Nacht, wo das Ende gekommen schien. Aber die wunderbare Gottesnähe war in diesen Augenblicken am stärksten und größten. Viola wandte sich zu mir und sagte : " Siehe, ich mache alles neu ", und wir fühlten uns geborgen, mitten im Entsetzen. Rudolf kam zurück und ermutigte uns, die Flucht über die Straße zu wagen. Auf der anderen Seite war das Haus von Frau Gallmeier zusammengestürzt, aber Nr. 76, ein gutgebautes, großes festes Haus hielt noch stand. Hier fanden wir schon den ganzen Flur voller Flüchtlinge (unter anderem den Apotheker Dörr) und gingen in den Keller hinab.


Es Hier zuerst hatte man das Gefühl einer gewissen Zuflucht und Ausruhmöglichkeit. Auch die Männer blieben ein Weilchen bei uns, und Viola nähte ihnen beiden die Risse an ihren Hosen zu. Daß Rudolf auch Glassplitter im Knie hatte, hat er da wohl selbst noch kaum bemerkt, jedenfalls nicht gesagt.

Daneben war ein Raum mit einer Badewanne mit Wasser, in der wir unsere Kopfbedeckungen und Mundtücher netzten, auch wohl so daraus tranken. Die Ausdörrung war fürchterlich, besonders für die Männer, die auch hier bald wieder die Löscharbeit auf dem Dach begannen. In diesem Hause herrschte ein ausgezeichneter Geist und eine glänzend eingearbeitete Luftschutzgemeinschaft. Nicht zum wenigsten diesem Umstand, dem wirklich aufopfernden Kampf des Funkenlöschens auf dem glühend heißen Dachboden, ist es zu verdanken, daß dies Haus die Katastrophe überdauert hat.

Zunächst begab sich Vater allein auf eine Expedition in den Stieg, um noch von unseren in Nr. 64 verbliebenen Sachen etwas herüberzuholen. Ein zweites Mal ging ich mit ihm. Wir fanden alles, bis auf meinen schönen Lodenmantel, den er so sorglich gerettet hatte. Ich hatte ihn der furchtbaren Hitze wegen nicht noch  über Kostüm und Trainingsanzug drüberziehen können und daher zunächst zurückgelassen. Wir gingen dann noch mal an unser Haus heran, das jetzt endlich- stundenlang hatte es angedauert, bis es so weit kam - in hellen Flammen brannte, wie wir davorstanden, brannte gerade der Balkon der  " Mau " mit meinen schönen Tomatenpflanzen aus, die Kirche loderte zu dieser Zeit hochauf, der Turm brannte in wütender Glut – auch das hatte lange gedauert und war schließlich von hinten von der Sakristei her, geschehen. Wir hatten noch eine ganze Zeit gehofft, es könne doch noch ein Wunder geschehen, doch war die Feuereinkreisung zu gewaltig. Noch durch die Bodenluke von Lübeckerstraße 76 hatten die beiden Männer das Kreuz unseres Turmes hochragen sehen und miteinander Gott gedankt für allen Segen und alle Gnade, die Er uns allen mit und in diesem geliebten Kirchlein geschenkt hat.

Als wir nun so im Gang vor dem brennenden Haus standen, bemerkte Erwin plötzlich auf dem Boden die Kirchenbücher liegen, noch wenig versehrt, und wir konnten sie noch alle retten und mitbekommen, bis auf eines, das alte Taufbuch, das verbrannt ist, während das neue (von 1898 an) so stark beschädigt ist, daß es nur zum Teil noch zu gebrauchen ist. Wir kehrten nun mit allem zurück. Auf dem Hinweg hatten wir Ernst Riecken getroffen, der – mit der Gasmaske bewährt –ausgezogen war, um nach der Kirche zu sehen. Da er auch bei Brügmanns einsehen wollte, baten wir ihn um Bescheid an Tante Toni, falls sie da sei, und das kam gut aus. Bald nachher traf sie bei uns in Nr. 76 ein.


Diese ganze Expedition mag etwa um 6 Uhr morgens stattgefunden haben. Vorher und nachher ging das Löschen auf dem Dach des Hauses fort. Vater erzählt, wie er oben im Stockdunkeln ein Ehepaar vorfand, die sich ihm – in dieser Situation mit: " Sehr angenehm " vorstellten ! Als er sie fragte, was denn mit ihrer Wohnung sei, sagten sie, da halte der 89jährige Schwiegervater Brandwache. Eine andere alte Dame, die sonst nichts mehr helfen konnte, teilte fortwährend aus ihren Vorräten Rotwein und Wermut aus, die aus einem Gemeinschaftsglas getrunken wurden, was den Männern bei ihrer Arbeit eine große Erleichterung war. Wir Frauen saßen hier in 76 stundenlang still beieinander. Viola hielt sich die ganze Nacht tadellos.

Nur, als wir hörten, Zickel sei allein im Haus zurückgeblieben und daher wahrscheinlich  umgekommen, brach sie in verzweifelte Tränen aus, in denen sich die furchtbare Spannung der langen Stunden ein wenig löste.

Später (viele Wochen später) erfuhren wir dann, daß Zickel mit einer Frau und Tochter aus den kleinen Häusern bis zuletzt zurückgeblieben sei, sich noch in unserer Speisekammer ein wenig gestärkt habe, was mich mit größter Befriedigung erfüllte, dann noch Löschversuche gemacht habe, da inzwischen der Feuersturm draußen so furchtbar geworden war, daß man nicht mehr herausgekonnt habe. Dann, als gegen Morgen das Holzhandlungsfeuer ausgebrannt sei. seien sie geflohen und haben noch Wassereimer und dergleichen in ihr nächstes Asyl in der Neubertstraße mitgenommen.

Ernst Riecken hatte uns geraten, wenn das Feuer in den Straßen sich etwas gelegt haben werde, zu ihm zu kommen. Als daher, vielleicht ungefähr um 8 Uhr morgens (die Zeitbestimmungen sind recht ungenau, da bei der den ganzen Tag fortwährenden Dunkelheit und den furchtbaren Aufregungen keiner von uns viel auf die Zeit geachtet hat, ich weiß nur bestimmt, daß es nachher bei Rieckens ungefähr 9 Uhr war, daß wir ungefähr um 12 Uhr die Wagen bestiegen und um 3 Uhr in Harburg ankamen) die Parole ausgegeben wurde, 76 finge nun auch an zu brennen, und man solle allmählich weiter gehen, machten wir uns zunächst mit einem Teil der Sachen auf und ließen Tante Toni mit dem Rest zurück mit dem festen Versprechen, sie bald abzuholen. Der Weg zu Rieckens war eine furchtbare Enttäuschung. Ich hatte gehofft, wir würden hier eine richtige Zuflucht vor dem Feuer finden. Stattdessen kamen uns Scharen von Flüchtlingen entgegen : Ist nach da zu noch ein Ausweg ? Kommt man da heraus ?

Das Schuttestift und die Schule gegenüber brannten lichterloh, der Funkenregen traf sich in der Mitte der Straße, wo wir gingen, in den Koffern sind Löcher eingebrannt. In einem Flüchtlingshaufen vor der Schule Bürgerweide trafen wir Gretchen Peters, die Ärmste, im hochschwangeren Zustand und erfuhren, daß da hinten Elise-Averdieckstraße, Bürgerweide und Bethesdastraße alles eine brennende Hölle sei.  O, diese unheimliche Ankunft bei Rieckens ! Hinter ihnen brannte es, das zweite Haus nach ihnen brannte, ihr Haus erschien mir nun schon eingekreist, und das Ganze wirkte bei diesen kleinen Villen so viel unmittelbarer drohend und beängstigend.


Das Hier fanden wir Hohnsbeins, Martha Lorenz, die sich am Morgen dieses Tages zu Schiff von Warwisch her und zu Fuß vom Hafen her bis zu Rieckens hin durchgeschlagen hatte, von ihr hörten wir das erste von dem ungeheuren Umfang der Katastrophe. Sonst saß man ja immer in seiner brennenden Ecke fest und wußte nicht, nach wohin ein Ausgang sei, wo das furchtbare Flammenmeer aufhöre und wo man gerade hineinrenne.

Dafür eben bezeichnend die sich begegnenden Flüchtlingsströme in der Alfredstraße. die genau in der entgegengesetzten Richtung wie wir auf einen Ausweg hofften.  Hagemanns, die am Sonntag alles verloren und hierher geflüchtet waren und noch Fremde. Es war stockdunkel im Hause, Rieckens in größter Seelenangst um ihren Werner bei der Flak, von dem sie noch gar nichts wußten. Wir durften uns setzen oder auf die Couch legen, bekamen Apfelmost, aber auch hier mußte der Funkenlöschdienst auf dem Dach gleich fortgesetzt werden, wobei Elbers, was er uns auch erst viel später erzählte, eine schwere Bodenluke oder so was gegen die Schulter stieß und sie sich fast ausrenkte, was sogar ihm für ein Weilchen den Rest gab.

Beide Männer waren so erschöpft, daß sie zunächst kaum einen Gedanken oder Entschluß fassen konnten. Inzwischen gab's erneuten Alarm, von herumziehenden Sirenenwagen angezeigt, da alle Sirenen ringsum zerstört waren, und Schießerei begann. Ich war in größter Sorge um Toni, die wir zum zweiten Mal allein zurückgelassen hatten und zog schließlich, trotz Alarm und Schießen, mit Gerdas Puppenwagen mit Viola-Renate und Martha Lorenz nach Nr. 76 zurück. Wir kriegten auch glücklich alles heraus und kehrten schwerbeladen zurück. Bei Rieckens ließen wir dann alles, was der Kirche gehörte und auch alles von uns, was wir nicht mit den Händen so fortschleppen  konnten. Wir gaben es verloren, denn wir glaubten Rieckens Haus bei unserem Aufbruch unmittelbar vorm Abbrennen. Es war uns das erste Zeichen der erbarmenden Güte unseres Gottes, als wir am 6. August Ernst Riecken wiedertrafen und von ihm hörten, daß sein Haus erhalten und die Sachen nach Warwisch in Sicherheit gebracht seien.

Hier bei Rieckens wurde nun ernstlich beraten, was weiter geschehen solle. Vater wollte durchaus bleiben und versuchen, sich am Nachmittag nach Hamm durchzuschlagen. Rieckens dachten an Kirchwärder, Martha Lorenz wollte noch nach ihrem Hause sehen. Hagemanns mit Hilde Kerll fliehen.  Indessen kuckte Hans-Heinrich Riecken einen Augenblick herein und berichtete uns, daß Bethesdastraße 32 zusammengestürzt sei, durch eine Sprengbombe getroffen und Hanna Peters wohl tot sein müsse. Erst viele Tage später erfuhren wir, daß Hanna Peters sich durchgeschlagen,  Gretchen und nachher auch Franz gefunden, der sich zu Rettungsarbeiten dahin hatte kommandieren lassen können und von ihm mitgenommen worden waren nach seiner Harburger Kaserne und von da nach Hermannsburg geflohen. Vater wollte nach Hamm, weil dort die Taufe des kleinen Günther Bülow hatte stattfinden sollen. (Später hörten wir dann, daß Inge Bülow zur selben Zeit mit ihren Kindern und ihrer Mutter geflüchtet war) Ich strebte mit aller Macht, mich nach Nestau durchzuschlagen.


Schließlich verließen wir alle zusammen das Haus, zunächst um uns aufschreiben zu lassen und das dem Deutschen allernötigste "Papier" zu bekommen. Da kam eine Flakabteilung und sperrte die Straßen " Fort in die Wagen ! Die Straßen brennen ! "  Wir sagten, wir wollten uns aufschreiben lassen. "Ach, Unsinn, da ist nichts mehr aufzuschreiben. So schnell wie möglich in die Wagen."  Ein langer Zug Lastwagen stand in der Bürgerweide. Wir : Hohnsbeins, Grete Roos, Tante Toni, Rudolf Elbers und wir drei kamen mit Gepäck alle zusammen durch Rudolfs tatkräftige und geschickte Hilfe in den einen, den letzten, der da stand. Es waren Bretter gelegt, auf denen man dicht an dicht saß, das Gepäck unter sich. Es mögen 60- 80 Menschen auf solchem Wagen gewesen sein. Nun ging die Fahrt los, es war etwa 12 Uhr, heiße Sommerglut, trübes Dämmerlicht, Wagen an Wagen, schrittweise mit häufigem Halten, 3 Stunden bis Harburg !


Der erste Eindruck war der eines unabsehbaren Zuges von Hunderttausenden, ganz Hamburg wurde geräumt ! Die Straßen brannten zum Teil noch lichterloh, überall standen die Feuerwehrwagen und arbeiteten verzweifelt und vergeblich, überall lagen ihre Schläuche über die Straßen. Das Furchtbarste war das donnernde Zusammenstürzen der ungeheuren Glutmassen der ausgebrannten Hochhäuser. Zum ersten Mal erlebten wir das sofort an der Ecke Wallstraße bei Christophs Schule. Es war ein entsetzlicher Augenblick. Wir standen gerade davor, als es geschah, und alles schrie vor Angst und Schrecken. Gleich darauf standen wir an der Lübeckertorbrücke und sahen mit Entsetzen die ganze linke Häuserreihe, wo das Reformhaus war, glatt abgestürzt, offenbar durch Sprengbomben, sodaß man die hinteren Hauswände von innen sah. Unter der Uhr am Platz sah ich mit schauderndem Entsetzen eine Leiche liegen, wie eine ägyptische Mumie mit winzig zusammengetrocknetem Körper und dagegen riesig wirkendem Kopf. Doch ging mir der Sinn, dessen, was ich sah, erst später auf, als ich mir den lebhaften Eindruck wieder vergegenwärtigte.

Von den Leichenbergen, durch die wir nachher in Hammerbrook-Rothenburgsort gefahren sind, haben wir alle außer Gretchen Roos nichts gesehen, da wir von anderen Eindrücken zu sehr überwältigt waren. Der Wagen fuhr langsam weiter -ein entsetzter Blick den völlig zusammengestürzten Steindamm hinunter. An der Ecke Lohmühlenstraße, wo wir länger hielten, tauchte plötzlich Pastor Schauer auf neben unserem Wagen, der auf der Suche nach dem Verbleib von alten Stiftsfrauen war. Um den Hauptbahnhof herum ein unfaßlicher Eindruck: mitten in diesem rauchenden Trümmerfeld (der Hauptbahnhof selbst brannte lichterloh) einige Straßen, die noch standen und darauf in dem fahlen Dämmerlicht Frauen mit Einkaufskörben, die zusammenstanden und schwatzten, ein Pärchen, - das Leben ging weiter, ging tatsächlich weiter, auch jetzt, auch hier.


Gleich hinterm Hauptbahnhof beginnt wieder das furchtbare Flammenmeer. In der Amsinckstraße wieder ein langer Halt und das grausigste Erlebnis dieser Fahrt : eine unerträgliche Hitze beim Halten, denn neben uns ist eine ungeheure Kohlenhalde in hellen Flammen zur Rechten, zur Linken ein hohes Haus in höchster letzter Glut. Plötzlich fällt es mit Donnerkrachen zusammen, ein Angstgeschrei gellt durch den Wagen,  und wir fahren weiter. Später haben wir gehört, daß der nächste Wagen nach uns unter der Glut dieser zusammenstürzenden Häuser an derselben Stelle begraben worden ist. Welche Gottesgüte hat uns auf dieser entsetzlichen Fahrt geleitet !

Wir suchten mit Hohnsbeins zusammen unaufhörlich die Straßen zu überblicken, wo Diebenows wohnten und wir noch vor wenigen Stunden so anders zusammen gewesen waren.  Auch nach der Johanneskapelle versuchten wir auszuschauen. Aber alles war das gleiche verheerende undurchdringliche Feuermeer. Erst über die Elbbrücke hinüber wurde es besser. Nun endlich kamen wir ins Tageslicht hinaus. Die Veddel war noch zusammenhängend heil mit nur einzelnen größeren und kleineren Zerstörungen, und endlich kaum faßbar nach all den sich steigernden entsetzlichen Eindrücken, landeten wir in Harburg, das gänzlich unberührt erschien.

Alle Straßen waren voll Menschen, alle waren freundlich, eifrig, hilfsbereit, aber auch eilig und verstört. " Macht bloß, daß ihr euch in Sicherheit bringt. Heut nacht kommen wir dran. " Auf dem Markt stiegen wir aus und bahnten uns durchs Gewühl den Weg.  Rudolf Elbers wollte sich melden als Beamter der Gas und als Soldat, aber es wurde keine Meldung angenommen. "Mensch, wo willst du dich denn melden, wo’s nichts mehr zu melden gibt? " so beschloß er zunächst nach Granzin zu seiner Familie sich durchzuschlagen. Wir sahen toll aus mit den rauchgeschwärzten, übernächtigten Gesichtern, ich im Trainingsanzug, die Männer in den zerrissenen Anzügen,  Elbers im Stahlhelm usw, aber wir stachen nicht ab gegen unsere Umgebung.

Nach einer kurzen Abfütterung stiegen wir auf den nächsten Lastwagen nach Lüneburg. Man versuchte eine kurze Aufschreibung aller Namen, um eine erste Übersicht in das grauenhafte Flüchtlingschaos zu bringen, aber es dauerte zu lange, es wurde mittendrin wieder aufgegeben. Ein phantastischer Eindruck war diese Fahrt, halb hockend auf dem Boden des Lastkraftwagens, in dem wohl 50 Flüchtlinge zusammengepfercht waren. Ein Anhänger war hinten dran, und noch immer ging der Zug dieser Gefährte, eins nach dem andern, fast ohne Pause durchs Land. Das Land in stiller köstlicher Sommerglut, in friedlicher Tätigkeit, in leuchtendem Grün. In allen Dörfern kamen die Leute und brachten uns was zu trinken, alles durcheinander : Bier, Brause, Muckefuck. Einmal brachte eine Frau Körbe voll großer reifer Tomaten und verteilte sie an alle.  Gegessen haben wir nicht, denn in Harburg fuhr der Wagen schon fort, als uns gerade eingefüllt worden war.


Hier trennte sich Rudolf Elbers von uns. Er kam nachts um 2 zu Fuß, zu Tode erschöpft, in Granzin an. In Lüneburg hatten wir gleich Anschluß. Die Züge fuhren ohne Fahrplan in diesen Tagen, jeder bis an den Rand gestopft voll mit Flüchtlingen. Auf dem Bahnhof steckte man uns große Marmeladebrote in die Hand. In Ülzen telefonierten wir an Horn und baten ihn, uns in Soltendieck abzuholen. Die Fahrt nach Soltendieck war die erste, die wir bezahlten und wenigstens teilweise mit Nichtflüchtlingen zusammenfuhren. Horn holte uns in Uniform im Feuerwehrwagen ab, und so fuhren wir armen " Bobes "  recht stolz und vornehm in Nestau ein. Der Empfang dort mit Spiegeleiern, Bratkartoffeln, Erdbeersaft und was noch alles an Genüssen und reinlich friedlichen Betten für uns alle 7 und das unvorbereitet um 10 Uhr abends und wie durch Zauberei hergestellt, gehört entschieden an den Schluß dieses Berichtes.


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